EINFÜHRUNG

Der Begriff „Biofakt“ besteht aus einer Verbindung der Wörter „Bio“ (als Präfix entlehnt von gr. bios = Leben) und „Artefakt“. Er ist, wie einst der Begriff „Bionik“, ein Neologismus, der ein terminologisches Niemandsland zwischen Natur und Technik besiedeln soll, und wird seit 2003 in der Philosophie, Soziologie und angrenzenden Disziplinen (u.a. der Kunstgeschichte/Bio Art) rezipiert. Ein Grund dafür ist die systematische Leerstelle zwischen den Kategorien von Natur und Technik, die insbesondere die neuen Biotechniken eröffnet haben. Artefakte sind künstliche, geplante und geschaffene Objekte. Die konstruierten Objekte fielen bislang immer in den Bereich der Gegenstände. Ein Artefakt meint stets Menschengemachtes und dient als Sammelbegriff für so unterschiedliche Dinge wie Bauwerke, Kunstwerke und Maschinen. Artefakte sind im allgemeinen tot. Biofakte hingegen sind biotische Artefakte, d.h. sie sind oder waren lebend. Die Kategorie der technischen Zurichtung des Lebenden ist zwar nicht neu (vgl. klassische Züchtung, Landschaftsarchitektur), jedoch gab es bislang keinen systematisierenden Begriff, der auf die technische Einflußnahme auf das vormals natürliche Wachstum verweist. Denn es sind die Methoden, die über die Einordnung entscheiden werden, ob etwas noch Natur oder schon Technik ist. Und auch, ob etwas ein Ding oder ein Wesen ist. Biofakte stehen als Mittleres zwischen den Lebewesen einerseits, die selbstbestimmt wachsen, und den Artefakten andererseits, die fremdbestimmte Dinge sind und nicht wachsen. Sie problematisieren durch die stetige Grenzerweiterung die Zuschreibung von Autonomie und Identität.

Dadurch bieten sich für die Geisteswissenschaften die bekannten Herausforderungen der (Bio)Ethik, aber vor allem ergeben sich neue Denkanstöße für die vorgelagerten Bereiche der Ontologie, Wissenschaftstheorie, Anthropologie und Phänomenologie. Auf letztere fokussiert mein Beitrag. Einfacher formuliert: Angesichts von Biofakten fragt man unter einer anwendungsbezogenen Perspektive neu: Was ist der Mensch? Was ist seine Natur? Wie und wo wird „der Mensch“ (als Individuum und Gattung) gemacht? Wann und v.a. wo beginnt und endet sein/ihr Leben? Und wie wird das Menschliche des Menschen bzw. das Tierische des Tieres und das Pflanzliche der Pflanze „angesichts“ von aus dem Labor freigesetzten Biofakten lebensweltlich noch erfahrbar? – Ob man „den Menschen“ und seine Natur verändern darf (d.h. die ethische Frage), kann erst beantwortet werden, wenn man sich der anderen Fragen vergewissert hat. Allzu leicht meinen sich einige bioethisch motivierte AutorInnen der gesellschaftlichen Debatte um die Phänomenalität der Natur mit dem Hinweis zu entledigen, dass das Natürliche nicht gleichbedeutend mit dem Guten ist. Diese Aussage ist zwar richtig, aber sie ist nachrangig. Denn: Woher weiß man überhaupt, was Natur ist?

Mit dieser Ausgangslage ist auch eine These formuliert, die es im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit und der technoscience anzugreifen gilt. Die von Aristoteles u.a. in seiner Physik prominent vertretene These lautet, daß dasjenige, was wächst, stets Natur (gr. physis) ist. Auch „Leben“ wäre demnach immer Natur. Dasjenige, was von außen bewegt wird, was nicht wächst, kann dagegen nach Aristoteles als Technik gelten. Technik wäre demnach unlebendig, und sie wäre immer ein Äußeres. Aber gilt das angesichts moderner Bio-Techniken wie Zellkultur, Organtransplantation, Nanobiotechnologie und der Reproduktionsmedizin noch? Wodurch unterscheidet sich endogenes Design (des Biofaktischen) von der Prothetik?

Eine mögliche Antwort wäre: Endogenes Design setzt beim Konstruieren (auf der Planungsebene) vom Modell des Inneren an dessen Repräsentation, d.h. außen an (z.B. einer Genkarte) - und unterstützt beim Gestalten ein physisches Wachstum im Labor, das dieses Modell realiter hervorbringt und von innen nach außen erst wirklich werden lässt. Eine implantierte Prothese hingegen plant das Verinnerlichen eines außen schon vorliegenden Artefakts (z.B. das Einsetzen eines Herzschrittmachers), das sich in den leiblichen Kontext erst „einheilen“ muß. Die assimilativen Potentiale des Pflanzlichen sind für beide Technisierungen grundlegend. Sie sorgen für das Bilden einer Entität, die sich irgendwann als leibliche Ganzheit versteht.

Der Einbau von Prothesen rechtfertigt noch nicht die Rede vom semiartifiziellen Wesen, vom Biofakt. Denn man könnte die Prothese immer auch wieder entfernen. Aber etwas, das gewachsen ist, kann man nicht mehr in Einzelteile auflösen. Aristoteles unterschied daher zwischen gr. symphysis und synthesis.

Warum ein neuer Begriff? Da Wissenschaftler mittels Biotechnik in das Wachstum des Lebewesens nun im Kern und damit im Anbeginn eingreifen können, und es aber gerade das Wachstum ist, daß das Lebewesen als solches erst kennzeichnet, bedarf es eines Mittelbegriffs, der das Überschreiten dieser Grenze deutlich macht, ohne die Grenze selbst zu verwischen. Denn Grenzen sind wichtig zur Orientierung, zum eigenen Selbstentwurf des Menschen. Bislang gebräuchliche Begriffe, die das Artefaktische des Lebenden umschreiben, trennen zum einen zwischen Men­schen, Tieren, Pflanzen und Bakterien, zum anderen entstammen sie unterschiedlichen Kontexten, die einen nicht nur wissenschaftlichen Umgang mit ihnen erschweren.

Biofakte problematisieren in corpore einen Wachstums- und einen Bewegungsbegriff, der bislang als Unterscheidungsmerkmal zwischen den Sphären der Natur und Technik gedient hat. Hier besteht Systematisierungsbedarf, der im Rahmen einer noch zu etablierenden Biotechnikphilosophie geleistet werden sollte. Sie konzentriert sich u.a. auf die disziplinären Vermischungen der biologischen und technischen Methoden, Ontologien und Begriffe, wie z.B. im Fall der Bioinformatik. Dadurch verschiebt sich auch der empirische Bereich, in dem Menschen Erfahrungen mit wissenschaftlichen Konstrukten machen: Modellorganismen wie z.B. transgene Maispflanzen verlassen zunehmend die Sphäre des Labors und erscheinen im lebensweltlichen Kontext als – normierte – „Natur“. Der Widerstand gegen solche Freisetzungen in Europa ist nicht nur durch das Wähnen möglicher Risiken motiviert, sondern auch durch die Einsicht, dass Pflanzen die naturontologische Basiseinheit „des Lebens“ sind, und etwaige Normierungsversuche auch beim Menschen Anwendung finden könnten. „Natur“ soll nach Überzeugung vieler Menschen vielfältig und widersprüchlich bleiben, weil sie dadurch als ein – sowohl versorgendes wie bedrohliches – Gegenüber dient, an dem sich „der Mensch“ messen und bewähren kann.

 

Ontologien und Phänomene der Lebenswelt und Wissenschaftswelt

 

Biofakte sind phänomenal betrachtet Lebewesen, weil man sie wachsen sieht und sie wie „alte Bekannte“ aussehen, aber sie sind in ihrem Werden nicht mehr selbsttätig. Ihr Wachstum wird zum Akzidens und gehört nicht mehr zu ihrer Substanz, in den Begriffen der Ontologie gesprochen. Man kann hier an transgene Pflanzen und Tiere, und irgendwann auch an Menschen denken.

Ihre Anfangsbedingungen wurden durch Fusionen und den Zusatz kontrollierbarer Medien gesetzt. Sie behalten gleichwohl die Fähigkeit zur Mutation und, im Falle von handlungsfähigen Lebewesen, als Erwachsene auch die Fähigkeit zur Handlung. Biofakte sind nicht Roboter mit menschlichen Funktionen, bei denen man den artifiziellen Anteil auch phänomenal sieht. Sondern umgekehrt: Man sieht den artifiziellen Anteil nicht und findet ihn womöglich auch nicht einmal auf substantieller, molekularer Ebene.



[1] Vgl. Karafyllis, N.C. (Hg.), Biofakte – Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen (2003), Mentis, Paderborn; Dies., Biofakte – Grundlagen, Probleme, Perspektiven (2006). In Erwägen Wissen Ethik, Jg. 17 (4), 547-558.

[2] Vgl. u.a. Birnbacher, D., Natürlichkeit (2006), DeGruyter, Berlin/NewYork, insb. 13f, sowie Hubig, C., Die Kunst des Möglichen I (2006), transcript, Bielefeld, insb. 183ff. Stoff, H., Alraune, Biofakt, Cyborg. Ein körpergeschichtliches ABC des 20. und 21. Jahrhunderts, in: Ehm, S./Schicktanz, S. (Hg.), Körper als Maß? (2006), Hirzel, Stuttgart, 35-50; Hagner, M. (2006), Die Welt als Labor und Versammlungsort, in: GAIA 15/2, 124-137; Reichle, I., Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Technoscience (2005), Springer, Wien/New York. Wehling, P., Social Inequalities beyond the modern Nature-Society-Divide?, in: Science, Technology & Innovation Studies (2005), Vol. 1 (1), 3-16; Pulla, R., Radfahren als „Maschinensport“. Technisierung von Sportgerät und Athlet im 20. Jahrhundert, in: Dresdner Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften, Heft 29 (2004), 89-118; Rammert, W., Technik, Handeln und Sozialstruktur. Eine Einführung in die Techniksoziologie. Technical University Technology Studies Working Papers 3 (2006), 6; Hauser, Jens (Hg.): sk-interfaces, Liverpool University Press (2008).

[3] So ist z.B. für transgene Tiere alltagssprachlich das Wort „Chimäre“ gebräuchlich, das bis zur griechischen Mythologie führt und über die Jahrhunderte eine starke Wandlung durchlief. Bei transgenen Pflanzen und Bakterien spricht man wissenschaftlich meist von GVOs, gentechnisch veränderten Organismen, denn die Begriffe „Hybrid“ und „Bastard“ sind auch in der konventionellen Pflanzenzucht bereits gebräuchlich und entstammen dem Fachjargon der Kreuzungsgenetik. Beim biofak­tischen Menschen schließlich werden Begriffe des Science Fiction-Genres entliehen, wie etwa die Rede vom Cyborg (wenn auf die Ähnlich­keit zum Roboter angespielt wird) oder Replikant, wenn auf humane oder humanoide Klone abgehoben wird. An dieser Stelle sieht man die zugrunde liegende Utopie vom Menschsein, die dazu führt, den gegenwärtig technisch in seiner Wachstumsdynamik veränderbaren Menschen näher z.B. an eine imaginäre Sklavengesellschaft auf einem fernen Planeten anlehnen zu wollen, oder der Glaube an einen sorgen- und leidensfreien Menschen in einem vorweggenommenen Paradies. Die Bezeichnungen „Menschmaschinen“ und „Maschinenmenschen“ mögen zwar auf die technischen Anteile des Humanen verweisen, insbesondere in Bezug auf ihre mentalen Fähigkeiten (künstliche Intelligenz), sie setzen in ihren Klassifikationsbemühungen aber an einem fertigen Zustand an. Man sieht und fühlt sie nicht wachsen, sondern findet sie in erwachsenem Zustand als künstliche Entitäten vor. Kulturelle Referenz bleibt stets die verlorene Natürlichkeit des vormals von selbst Gewachsenen.


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